Porträt · Die Szenenbildnerin Utta Hagen wohnt direkt am Rhein bei Düsseldorf, ist aber in der Filmwelt zu Hause. Immer morgens schickt sie ein Sehnsuchtsfoto des Flusses an all ihre Freundschaften und transportiert damit jedes Mal ein Stück dessen, was Film ausmacht: Bilder. 24 pro Sekunde ergeben in klassischer Filmtechnik den Eindruck einer bewegten Szenerie, einer projizierten Wirklichkeit. Was in diesen Szenerien zu sehen ist, entwirft Utta Hagen, Anfang des Jahres etwa in Oskar Roehlers Filmbiografie „Enfant Terrible“ über den Regisseur Rainer Werner Fassbinder. Szenenbild, sagt Utta, ist die Vorbereitung dafür, dass Kamera und Regie die Bilder dafür finden können, dass ein Film so wirkt, wie er wirken soll. Und das ist, wie wir sehen werden, eine erstaunliche Mischung aus künstlerischer und logistischer Höchstleistung. [Lesezeit ca. 7 min]

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Bei Anruf Atmo. - Utta Hagen setzt jeden Film gut in Szene; Foto: Christine Sommerfeldt

Bei Anruf Atmo. – Utta Hagen setzt jeden Film gut in Szene; Foto: Christine Sommerfeldt

Wo findet das statt, was im Drehbuch steht? Und wie findet es statt? In der Jetztzeit, in der Vergangenheit oder in der Zukunft? Als Antwort auf diese und viele weitere Fragen entstehen vor den Bildern Räume im Kopf. Diese Räume gilt es zu gestalten. „Wichtigster Punkt dabei ist, die Dramaturgie des Films zu unterstützen,“ sagt Utta und weist direkt auf das Paradoxon des Films hin, das jeder kennt, das aber selten wahrgenommen wird: „Sobald die Kamera läuft, ist nichts mehr real, sondern nur alles Fiktion in Kulisse.“

Drinnen oder Draußen? Die Entscheidung für den Drehort ist Teamwork

Die Kulisse als Handlungsraum entsteht bei der Lektüre des Scripts bzw. des Drehbuchs. Utta gehört immer mit zu den ersten Personen, die gemeinsam erste Raumbilder im Kopf reifen lassen. „Szenenbild kommuniziert mit Regie und Kamera, dabei entsteht meist schon viel.“ Zum Beispiel die Entscheidung über die Frage, ob „on location“ oder im Studio gedreht wird. Meist ist es ein Mix.

Und neben den künstlerischen Aspekten geht es schnell ums Geld. Also die Aufstellung und finanzielle Ausstattung der Abteilungen. Im Szenenbild besteht die Gruppe aus Utta, ihrer Assistenz, dem Requisiteur und seiner Assistenz, der Set-Requisite, die immer beim Dreh dabei ist, der Set-Baubühne, den Setdressern und nicht zuletzt Handwerkern, Malern, Gärtnern, Schreinern, kurz allen, die es zum Herstellen der perfekten Illusion braucht.

Apropos Illusion: die Küche im Hintergrund ist gesprayt, die Frau im Bild rechts vor dem Abwasch ist real: Utta Hagen; Foto: Käthe Skora

Apropos Illusion: die Küche im Hintergrund ist gesprayt, die Frau im Bild rechts vor dem Abwasch ist real: Utta Hagen; Foto: Käthe Skora

„Ich werde daran gemessen, die gestalterische Seite gut zu bedienen, also dass alles so aussehen kann wie vom Umsetzungsteam gewollt. Dass das passt.“ Wobei „passen“ immer ein sehr fluider Begriff ist. Denn ob etwas passt, hängt nicht nur von der getroffenen Auswahl der Mittel für die Szenerie ab. Sondern es ist während des Drehs dem Vollendungswunsch des Teams oder einzelner Menschen unterworfen. Also dem Anspruch und der Erwartung, dass ein in mehrfacher Hinsicht funktionierendes Produkt entsteht. Es wird daher einiges oft und gerne geändert, von Kamera, Regie oder Schauspielern, weil ein Detail nicht funktioniert, sich nicht spielen lässt, oder die Stimmung im Bild nicht trifft.

Das „Mood Board“ – Sammelstelle für stimmige Stimmungen

Ihr jüngstes Projekt war der Film „Der Russe ist einer, der Birken liebt“, verfilmt von Augenschein-Filmproduktion, Köln; Regie Pola Beck, Kamera Juan Sarmiento. Bei dem Film sei schnell klargewesen, dass er „on location“ stattfinden müsse, der Titel habe nach Bäumen und Draußen verlangt und habe auch wegen finanzieller Abwägungen nicht im Studio stattfinden können, sagt Utta: „Ich bin mir relativ schnell sicher, was Filmräume leisten müssen. Mit entsprechenden Charakteristiken und Eigenschaften gehen wir dann meist auf mehrere Location-Scouts zu. Ich habe Stimmungen im Kopf, Vorstellungen davon, was ich dann empfinden möchte, wenn ich den fertiggestellten Raum sehe.“

Aus den Anhaltspunkten für die erforderlichen Stimmungen entstehen die „Mood-Boards“, in denen Kamera, Szenenbild, Regie und Kostüm ihre Ideen festhalten. Der Location-Scout macht dazu seine Vorschläge, und auch das sieht sich das Team gemeinsam an. Irgendwann stehen alle Motive für den Film parat. Das ist dann der grobe Fahrplan für die visuelle Gestaltung. Aber auch das wird immer wieder umgestaltet, bis es am Drehtag passt. „Das Team nimmt einen Raum fast nie so, wie er vorliegt. Denn zu einem Raum gehören meist die Figuren und umgekehrt, da ist immer Dynamik drin, die erst dann entsteht, wenn beide Parts zusammentreffen. Und das lässt sich oft nicht so auflösen, wie theoretisch geplant.“

Filmemachen ist wie fünf Flohzirkusse gleichzeitig in der Luft

Neben der künstlerischen trägt Utta immer auch die finanzielle Verantwortung mit. Zehn bis 20 Prozent des Gesamtbudgets für einen Film geht übrigens in das Szenenbild. Da muss sie natürlich auch im Auge behalten, ob Änderungen und Variationen im konkreten Projekt im Budget sind – da kann dann auch schon mal eine Idee gekippt werden. Die Kunst des Teams ist es dann, den Film dennoch in seiner intendierten Form zu realisieren.

Eine Entwurfszeichnung für den Film „Meckie Messer - Brechts Dreigroschenfilm“, 2018, Regie: Joachim A. Lang; Bild: Utta Hagen

Eine Entwurfszeichnung für den Film „Meckie Messer – Brechts Dreigroschenfilm“, 2018, Regie: Joachim A. Lang; Bild: Utta Hagen

Der Russen/Birken-Film hatte 22 Drehtage, 16 davon in Deutschland und sechs in Israel, mit acht Wochen Vorbereitung für das Szenenbild. „Enfant Terrible“ hatte 25 Drehtage und zehn Wochen Vorbereitung, die Netflix-Serie „Die Welle“, für die Utta als Artdirectorin tätig war, sich also „nur“ um die Bauten kümmerte, brauchte 69 Drehtage. Dreh bedeutet immer Aufbau im Vorfeld, je nach Umfang Tage oder Wochen, Dreh, und Rückbau an den Tagen nach dem Dreh. Vor- und Rückbau läuft normalerweise parallel, oft mit mindestens zwei Teams.

Stress? „Man trinkt dann schon mal was, fängt an zu rauchen, macht Yoga oder lässt es wieder sein… Ich könnte den Job auch nicht permanent machen, sonst verschleiße ich mich zu sehr.“ – Wenn Utta erzählt, merkt man, dass sie während der Arbeit ständig mindestens fünf Flohzirkusse gleichzeitig in der Luft hält. Ihr Erfolgsergebnis hat Utta, wenn insgesamt ein stimmiges Ergebnis erzielt wurde. „Ich will keine ’schönen Räume‘ im Sinne von Innenarchitektur, sondern Authentizität, eine ganz spezifische, einzigartige, besondere Realität einer Stimmung oder eines ganzen Films. Das herzustellen, macht mir großen Spaß.“

Die Kulissen im Fassbinder-Biopic: gesprayt und eine Hommage an „Dogville“

Ihre Vorbilder? Ken Adam, der fast alle Bond-Filme ausstattete. „Der konnte gut gucken, hatte ein Gespür für spektakuläre Räume, riesige Entwürfe, die ja funktionieren müssen. Und ich liebe die Sets, die Pedro Almodóvar gedreht hat! Weil da so tolles Licht ist und er so einzigartige Farben einsetzt. So farbig leben wir ja gar nicht, das würde bei uns als nicht authentisch rüberkommen.“ – Auch damit lässt sich arbeiten, um eine treffende Bildstimmung zu erreichen.

Nach dem letzten Drehtag und der Abwicklung, bei der das Team alle Ausstattungsgegenstände und Requisiten wieder zum Verleih zurückbringt, die Räume in den Ursprungszustand zurückversetzt und alles abrechnet, hört Uttas Arbeit auf. Beim Schnitt ist sie nicht mehr dabei, es sei denn, es muss etwas nachgedreht werden. Aber es sei eher selten, dass ganze Szenen noch mal gedreht würden, eher kleine Einstellungen.

Immer wieder Fassbinder, hier Couch, Bett und Badewanne des "Enfant Terrible"; Foto: Käthe Skora

Immer wieder Fassbinder, hier Couch, Bett und Badewanne des „Enfant Terrible“; Foto: Käthe Skora

Der Röhler-Film wurde in Köln-Ossendorf in den Magic Media Studios und in den Bavaria Studios in München gedreht, komplett drinnen. Die Besonderheit beim Fassbinder-Film war, dass große Teile der Kulisse gesprayt wurden. Hintergrund: Bei historischen Filmen frisst die Ausstattung große Teile des Budgets, also gerne auch mal mehr als 20 Prozent, sodass Röhler vorschlug, sich an „Dogville“ von Lars von Trier zu orientieren, wo die Räume mit Kreide auf dem Studioboden skizziert wurden. Röhler wollte auch so etwas reduziertes, wie beim Theater, gesprühte Hintergründe – aber der Ausstatter wollte das nicht und ging. Darüber kam Utta ins Spiel – Glück muss auch mal sein!

Wieder Runterkommen… – Gut, wenn das mit Bordmitteln gelingt!

Utta hat an der Kunstakademie Düsseldorf bei Richter und Rabinowitsch studiert. Sie hatte dort zwei Freundinnen, Astrid Ströher, die ist jetzt Drehbuchautorin, und Barbara Iland, heute Produktionerin, Regisseurin, TV-Redakteurin und Autorin. „Die hatten Filme gemacht, da sollte ich spielen, das ging aber nicht so, also machte ich die Ausstattung – und hatte meine Berufung gefunden!“ Die Drei hatten dann auch mal sowas wie den „Directress Cut“ von „Thelma und Louise“ gedreht – eine 5-Minuten-Adaption mit Happy End. Und zwar im Rheinflügel der Kunstakademie im 4. Stock, da war ein Filmstudio, und da „haben wir Hollywood-Kino gemacht“.

Rund zwei bis drei Film- oder Fernsehproduktionen pro Jahr bewältigt eine gefragte Ausstatterin wie Utta Hagen. Wie kommt man da wieder runter? Angeblich gibt es das Phänomen der Drehflaute nach dem Film, nach diesem Riesen-Gruppending, von einer kompletten Fremd- wieder in die Selbstbestimmtheit. Utta kennt das, sie macht das Filmausstattung seit 1998, also seit 22 Jahren: „Man muss tatsächlich irgendwie runterkommen, sich überlegen – hey, was wollte ich hier nochmal, im normalen Leben?“ Anfang Dezember 2020 ist die Lösung für Utta ganz real: „Ich stürze mich grade in mein kleineres, überschaubareres und deutlich weniger kondensiertes Projekt Plan D, also meine Mitgliedschaft in der Düsseldorfer Produzentengalerie Plan D.“ Da hat sie ihre nächste Ausstellung mit einer Rauminstallation, mehr wird noch nicht verraten. Corona-bedingt eingeschränkte Eröffnung ist am 12. Dezember. Und wer am ersten Weihnachtsfeiertag lineares Fernsehen schauen möchte: Am 25.12. um 12.50 Uhr läuft „Helene, die wahre Braut“ in der ARD, ein Märchenfilm, bei dem Utta dieses Jahr ebenfalls als Szenenbildnerin tätig war.

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