Kurzessay · [Aus gegebenem Anlass holen wir diesen Artikel noch einmal nach oben – er stammt aus dem April 2016] Neulich ging ich mit dem Sloughi eine Runde Einkaufen. Am Fürstenplatz pflaumte mich unvermutet ein Passant an: Es wäre ja wohl ein Unding, einen solchen Hund in der Stadt zu halten – der brauche die Natur! Es handelte sich um einen mittelalten Typ in hochwertigem Outdoor-Outfit samt sündhaft teurer Wanderschuhe. Ich war verdutzt und deshalb wenig schlagfertig. Also sagte ich nichts, und Herr und Hund gingen ihrer Wege. Zuhause regte ich mich ein bisschen auf, kam dann aber ins Nachdenken. [Lesezeit ca. 8 min]
Zwar war ich bis dahin nie derartig angegangen worden, aber Äußerungen von Leuten über die ihrer Meinung nach artgerechte Haltung eines Windhundes habe ich in den rund zwölf Jahren, in denen Rennköter mit uns leben, oft gehört. Und immer wieder scheint bei diesen – meist erheblich banalen – Sätzen der gefühlte Gegensatz von Natur und Kultur durch. Besonders schlimm tut er das bei den mehr oder weniger hysterische Tierfreund*innen, die ihr Karma durch das Entführen einer Töle aus einem bösen Land aufzubessern hoffen. Diese Menschen ist der Hund ein Stück Natur – ohne dass sie sich je fragen, was genau denn „die Natur“ ausmacht.
Der Canis familiaris, soviel steht fest, ist das Ergebnis einer Evolution, auf die Mensch UND Tier über einen Zeitraum von vermutlich rund 50.000 Jahre Einfluss genommen haben. Ohne den Menschen gäbe es den Haushund nicht; er ist kein Wildtier, sondern existiert nur in seiner domestizierten Form. Ist Fiffi dann überhaupt ein Stück Natur? Natürlich, im selben Maße wie der Mensch ein Stück Natur ist. Den westlichen Weltanschauungen liegt das Verständnis eines Gegensatzes von Natur und Kultur zugrunde. Unter Natur wird alles verstanden, was nicht vom Menschen erschaffen wurde – das übrigens unabhängig von den diversen Religionen und von allen Formen des Agnostizismus und des Atheismus. Seit der Aufklärung wird entweder ein allmächtiger Gott als Schöpfer aller Natur gesehen oder aber eine Evolution, die im Nichts begonnen hat. Unter Kultur wird dagegen alles verstanden, was der Mensch geschaffen hat.
Nehmen wir einmal die Landschaften Mitteleuropas. Ungefähr 96 Prozent der Fläche dieser Region ist Kulturlandschaft. Das heißt: Landschaft die so durch den Eingriff des Menschen entstanden ist. Die übrigen rund vier Prozent dürfen wir uns als natürliche Landschaften vorstellen. Jeder Acker zählt zur Kategorie „Kultur“, jeder Weg, jede Pflanze, die je ein Mensch angepflanzt oder versetzt oder bearbeitet hat. Die Menge an unverfälschter Natur ist in unseren Breiten verschwindend gering. Ein vollständig vom Menschen erschaffenes Stück Kultur ist die Stadt, denn sie besteht (fast) ganz aus Dingen, die vom Menschen erschaffen wurden. In der Stadt aber gibt es die Natur in Form von Menschen, Tieren und Pflanzen. Die Evolution hat dafür gesorgt, dass die belebte Natur sich der Kultur anpassen, in ihr existieren kann.
So wie der Mensch aber durch den Ackerbau Kulturlandschaften geschaffen hat, so hat er auch aus wilden Kreaturen Haus- und Nutztiere gemacht. Den Übergang von der Jagd zur Viehhaltung kann man als den entscheidenden Schritt auf dem Weg des Menschen vom natürlichen Wesen in der Natur zum Kulturschaffenden sehen. Der Mensch hat begonnen, sich Eigenschaften von Tieren zunutze zu machen. Dabei ging es anfangs vor allem darum, die Fleischversorgung jenseits des Jagdglücks sicherzustellen. Hinzu kam die Verbesserung der Ernährungslage durch die Verwendung tierischer Produkte, vor allem Eier und Milch. Die tiefgreifendsten kulturellen Errungenschaften haben sich in prähistorischen Zeiten mit dem Haltbarmachen von Nahrungsmitteln befasst. Zwei Tierarten aber spielten im Verhältnis zum Menschen eine andere Rolle: das Pferd und der Hund. Und beide sind die einzigen bekannten Beispiele für eine Ko-Evolution. Das heißt: Mensch und Hund und Mensch und Pferd haben jeweils gemeinsam und jeweils beide eine evolutionäre Entwicklung aufeinander zu durchlaufen. Noch klarer ausgedrückt: Die Domestizierung von Pferd und Hund haben den Menschen genauso verändert wie die genannten Tiere. Beide Seiten haben davon profitiert.
Die langsame Veränderung des Hundes in Richtung Kultur
Das Pferd als Reittier hat dem Menschen die Bewegung in weit größeren Räumen erlaubt und damit die Besiedlung scheinbar unwirtlicher Regionen möglich gemacht. Und der Hund hat entscheidend zur Verbesserung des Jagderfolgs beigetragen. Der Prozess der Annäherung der (wölfischen) Vorgänger des Canis familiaris an den Menschen zog sich vermutlich über rund 10.000 Jahre hin – also gut eintausend Hunde- und etwa zweihundert Menschengenerationen. Anders ausgedrückt: über die fünffache Zeitspanne zwischen Christi Geburt und heute hinweg. Ab etwa 18.000 bis 15.0000 v.Chr. wird es eine relativ einheitliche Art Haushund gegeben haben. Je nach den klimatischen Bedingungen und der Ernährungslage werden die Köter mehr oder weniger groß gewesen sein und mehr oder weniger dichtes und langes Fell getragen haben. Den durchschnittlichen Urhaushund dürfen wir uns als einen mittelgroßen Mischling mit relativ langer Schnauze und geschecktem Fell, wie es heute Jagdhunde tragen, vorstellen.
Dann stellten Jäger, die Hunde einsetzten, fest, dass sich bestimmte Individuen für die Jagd auf bestimmtes Wild besser eigneten als andere. In Regionen, wo vor allem kleinere Tiere und kleines Geflügel bejagt wurden, die im Busch oder Wald lebten, waren kleinere Sorten mit besonders guter Nase im Vorteil. In der Steppe dagegen Tölen, die gut sehen konnten und sehr schnell waren. Der Mensch begann mit der Zuchtwahl, um die gewünschten Eigenschaften zu erzielen. Das heißt: Die Vermehrung von Hündinnen und Rüden mit den erwünschten Merkmalen wurde gefördert, Welpen anderer Paarungen wurden vermutlich getötet oder per Kastration aus dem Vermehrungszirkus entfernt. Nach dem aktuellen Stand der Forschung geschah dies zuerst mit den Sichtjägern im Zweistromland und in der Region, die heute Persien ist. Und zwar vor gut 16.000 bis 18.000 Jahren. Der Archetypus des sogenannten „orientalischen Windhundes“ entstand dann spätestens um 8.000 v.Chr. Der Mensch hat im Sinne der obigen Definition den Windhund (und alle anderen Urrassen und Archetypen) „erschaffen“. Zuchtwahl ist also eine kulturelle Leistung, der Haushund dementsprechend ähnlich wie der Mensch ein Stück Natur, das in die Kultur integriert ist.
Was braucht der Köter?
Es ist merkwürdig und wird zunehmend ärgerlich, dass sich Millionen Menschen, die sich als Tierfreunde fühlen, Gedanken über die artgerechte Haltung von Nutz- und Haustieren machen, nicht aber über die artgerechten Lebensbedingungen des Menschen. Dass dem so ist, hat eine eindeutig politische Dimension, denn sich als Freund der Tiere zu fühlen und sich dem Schutz von Tieren zu verpflichten, ist zunächst völlig unpolitisch – und spielt damit den Kräften in die Karten, die von einem Andauern der herrschenden Macht- und Besitzverhältnisse profitieren. Zumal bei einer Mehrheit der Tierfreunde latenter Menschenhass vorliegt, also die Haltung: Das Tier ist gut, der Mensch ist schlecht. Beides ist grober Unfug. Das Tier als Teil der Natur ist weder gut, noch böse, sondern es ist. Der Mensch als Teil der vom Menschen geschaffenen Kultur ist ebenfalls weder gut, noch schlecht, sondern Subjekt oder Objekt der kulturellen Entwicklung und der Geschichte. Wer in diesem Zusammenhang von „der Natur des Menschen“ faselt und leichthin davon ausgeht, dass der Mensch „böse“ ist, weiß gar nichts über den Widerspruch zwischen Natur und Kultur und das Wirken der Evolution.
Halten wir uns an die Wissenschaft, um dem Aberglauben, dem unbegründeten Meinen und Schwafeln zu entgehen. Die größte Gemeinsamkeit zwischen Mensch und Hund ist, dass beide soziale Wesen sind, also für ihr Wohlbefinden die Gemeinschaft mit Artgenossen BRAUCHEN. Das lässt sich inzwischen sowohl für den Menschen, als auch den Hund neurobiologisch belegen. Beide Arten verfügen über ein Bukett an Verhaltensweisen, die darauf abzielen, soziale Verbände zu erzeugen und zu stabilisieren, weil die Individuen beider Arten ohne den Verbund mit Artgenossen nicht überlebensfähig sind – und zwar sowohl physisch als auch (und vor allem) psychisch. Wie sehr Mensch und Hund durch die Ko-Evolution zusammengewachsen sind, zeigt, dass gemischte Verbände mit jedem Mischungsverhältnis zwischen Mensch und Hund den jeweiligen Mitgliedern das gleiche Wohlbefinden bringen. Der alte Satz „Der Hund gehört zum Mensch, und der Mensch gehört zum Hund“ kann als wissenschaftlich belegt betrachtet werden.
Artgerecht für Mensch und Hund ist es also, mit anderen Menschen und/oder Hunden GEMEINSAM zu leben. Das und die Deckung der lebens- und arterhaltenden Grundbedürfnisse sind die Basisfaktoren für individuelles Wohlbefinden – etwas das wir hilfsweise auch „Glück“ nennen dürfen. Sowohl beim Menschen, als auch beim Hund ist eine komplexe Hormonmaschinerie dafür zuständig, die Triebe zu steuern, durch die Lebens- und Arterhaltung erreicht wird. Es ist nachgewiesen, dass zum Beispiel die Ausschüttung des „Bindungshormons“ Oxytocin zwischen Mensch und Hund artübergreifend funktioniert. Streichelt das Herrchen sein Hundchen, schütten beide Oxytocin aus; leckt der Köter seiner Halterin die Hand, ebenfalls. Der Zustand, der durch das Hormon eintritt, heißt auch „sozialer Komfort“. Er löst einen ganzen Strauß an Gefühlen aus: Zufriedenheit, Sicherheit, Anerkennung, ja, Liebe. Wie gesagt: auf beiden Seiten.
Glück durch Gemeinschaft
Ganz unabhängig davon, unter welchen Lebensbedingungen der Hund gehalten wird: Artgerecht ist es, wenn er Teil eines Verbundes aus Menschen und/oder Hunden („Rudel“) ist. Artgerecht ist es, wenn er soziale AUSSENKONTAKTE zu anderen Hunden und auch Menschen haben kann. Artgerecht ist es, wenn die sozialen Verhältnisse möglichst stabil sind, denn der Hund ist in dieser Hinsicht ein „Sorgentier“, das nichts so sehr „fürchtet“ wie Veränderungen am und im Rudel. Gleichförmigkeit und Verlässlichkeit geben ihm die soziale Sicherheit, die er für sein Wohlbefinden braucht. Der Mensch ist vergleichsweise ein Hallodri, der gut mit wechselnden Verbänden und Veränderungen in seinem sozialen Umfeld zurechtkommt solange diese nicht zu massiv sind und solange sein Grundvertrauen nicht langfristig erschüttert wird.
Solange der Hund neben der artgerechten Ernährung (wobei die meisten Hunde ausgesprochen wenig wählerisch beim Futter sind und am liebsten jeden Tag genau dasselbe fressen wie am Vortag) und der seinem Bewegungsapparat und -dran angemessene Angebot an Auslauf hat, fühlt er sich im Rudel akzeptiert und sicher. Durch Außenkontakte mit anderen Hunden kann er sich dieser Konstellation versichern und seine Sicherheit jederzeit stabilisieren. Wird er also physisch und psychisch artgerecht gehalten, ist der Hasso das, was wir beim Menschen „glücklich“ nennen. Und das sowohl in der Stadt als auch auf dem Land. Oder im Wald oder Gebirge, auf einer Insel oder auf einem Schiff oder in einem Wohnwagen.
Die Verantwortung des Menschen
Im Laufe seiner Domestizierung hat sich der Hund vertrauensvoll in die Hände des Menschen begeben. Das heißt – und das wollen Hundefreunde, die ihren Wautzi für ein Stück Natur halten, nicht wahrhaben – dass der Canis familiaris ohne den Menschen nicht überlebensfähig ist. Wir wissen, dass sich herrenlose Hunde, also Streuner, IMMER in der Nähe menschlicher Ansiedlungen aufhalten und dass Streunerrudel in dünn besiedelten Regionen IMMER dorthin wandern, wo es Menschen gibt. Wir wissen inzwischen, dass es die Hauptaufgabe der Leithunde im Rudel ist, den Verkehr mit dem Menschen möglichst gewinnbringend fürs Rudel zu regeln, also Zugang zur Nahrung zu entdecken und die Mitglieder beim Essenfassen zu schützen. Ja, im Rudel (wie der Wolf bildet der Haushund nur in Krisenzeiten und -situationen Hierarchien im Rudel aus) regeln die Leithunde sogar die Zuchtwahl, indem sie die Vermehrung der starken Mitglieder fördern und die Welpen der schwachen Paare töten.
Die Aufgabe des Menschen ist es also zunächst, seinem Hund gute Lebensbedingungen zu schaffen, also für die warme und trockene Unterbringung, eine ausreichende, gesunde Ernährung, eine rassegerechte Bewegung und ausreichend viele und intensive Sozialkontakte und vor allem für absolute SOZIALE SICHERHEIT zu sorgen. So sieht die artgerechte Haltung eines Haushundes aus. Und um auch mal zu beschreiben, was nicht nötig ist: Freiheit. Soziale Sicherheit erlebt der Hund bei klarer Führung durch seine/n Menschen, durch dessen verlässliches Verhalten. Zu tun, was er will, löst bei keinem Hund messbare(!) Freude aus, eher im Gegenteil.
Die Rasseunterschiede
Auch unter interessierten Hundehalter gibt es die Diskussion darüber, ob tatsächlich das, was in den Rassedefinition „Wesen“ genannt wird, vererblich ist. Auch hier bewegt sich die Wissenschaft seit wenigen Jahren in neue Richtungen. Die zunehmend akzeptierte These besagt, dass dieses „Wesen“ definitiv NICHT vererbt wird. Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass dieses dubiose „Wesen“ massiv durch drei Faktoren bestimmt wird: Verhältnis der sensorischen Fähigkeiten zueinander, Aufnahmefähigkeit und Verarbeitungsgeschwindigkeit der komplexeren Hirnstrukturen sowie die Struktur des Hormonhaushalts. So können alle „Spürhunde“ nicht nur besser riechen, sondern die Gerüche auch länger speichern und so miteinander vergleichen. Windhunde sind Sichtjäger, die um Vielfaches genauer über große Distanzen Dinge und Lebewesen unterscheiden und erkennen können als andere Hunde. Alle Hütehunde verfügen über ein besonders ausgeprägtes Gehör. Und viele „Schoßhunde“ zeichnen sich dadurch aus, dass sie quasi Oxytocin-Junkies sind, die sehr viel mehr Streicheleinheiten brauchen als andere Tölen.
Wenn der anfangs erwähnte Passant dies alles gewusst hätte, hätte er eventuell etwas anderes gemeint. Nämlich dass es für einen Windhund nicht „rassegerecht“ ist, in der Stadt zu leben. Und dann hätte er damit sogar ein Problem angesprochen, das urbane Halter von Sichtjägern lösen müssen, soll ihr Rennköter „glücklich“ sein. Denn ob Greyhound, Saluki, Galgo, Sloughi, Barsoi oder ein anderer (großer) Windhund: sie alle brauchen zwar nicht „viel Auslauf“, sondern möglichst täglich die Gelegenheit, ein paar Sprints und schnelle Runden hinzulegen. Ein altes arabisches Sprichwort sagte: Was für den Vogel das Fliegen, ist für den Windhund das Rennen. Und für diese Rumraserei braucht die Schnelltöle einfach Platz. Und zwar je nach der Ausbildung, die er genossen hat und der Ausprägung von Jagd- und Hetztrieb einen Platz, der umzäunt ist und/oder von gefährlichen Straßen entfernt liegt.
Solche rassespezifischen Eigenarten zu berücksichtigen gehört zur Verantwortung des Halters gegenüber seinem Hund. Denn vor allen schon genannten Dingen hat der Mensch den Hund vor den Gefahren für Leib und Leben zu schützen. Und zwar unabhängig, ob beide in der Stadt oder auf dem Land leben.
[Foto: „Rainer und Clooney auf der Kiefernstraße“ (c) 2014 Antje Hachmann]