Lesestück · Das wunderbare Buch über den Hinterm-Bahnhof-Stadtteil, das Frau Wehrmann und Herr Luigs in die Welt gesetzt haben, war Anlass genug, unserer Serie „Durch Düsseldorf mit…“ ein Revival zu gönnen. Warum aber gerade Oberbilk? Nicht nur, weil sich das Buch um dieses Viertel dreht, sondern weil dieses spitze Ding, das sich vom Gleisdreieck an der Krahestraße im Norden bis zum Südzipfel des Südparks und vom S-Bahnhof Friedrichstadt bis ins Gurkenland hinzieht, mit sämtlichen Klischees über unsere schöne Landeshauptstadt aufräumt. Zu allem Überfluss räumt Oberbilk selbst bei näherem Hinsehen auch mit den Vorurteilen über Oberbilk selbst auf. Und zum näheren Hinsehen braucht man Leute, die das Viertel kennen und lieben. Womit wir bei Frau Wehrmann wären. [Lesezeit ca. 7 min]
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Beim Rundgang am Vatertag dieses Jahres gab der fotografierende Herr Luigs, bekannt durch seine Düsseldorfer Perlen, freimütig zu, dass er vor dem Buchprojekt so gut wie nichts über Oberbilk wusste. „Selbst als ich am Mintropplatz wohnte, bin ich nie unter der Unterführung hindurch zur Ellerstraße rübergegangen“, sagt er. Tatsächlich gilt das für viele Düsseldorfer: Der Bahndamm der Fernstrecke Düsseldorf-Köln war immer eine beinahe undurchlässige Grenze. Das änderte sich erst, als die nordafrikanische Kultur aus Oberbilk Richtung Mintropstraße hinüberschwappte und in den Achtzigerjahren die marokkanischen Teestuben an der Helmholtzstraße öffneten.
Aber Oberbilk war in früheren Zeiten ohnehin einigermaßen hermetisch. Das Ende der Industrieschneise, die sich über gut 100 Jahre von Lierenfeld quer durch Oberbilk zog, endete mit einer Ziegelmauer an der Rückseite des Hauptbahnhofs. Wer mit dem Zug ankam und nach Oberbilk wollte, musste einmal um den Block und dann durch die erwähnte Unterführung. Seit den frühen Achtzigerjahren hat der Hbf einen Ausgang nach Osten; der heißt Bertha-von-Suttner-Platz und gilt vielen als eine Beton gewordene Bausünde. Dort trafen wir uns zum Rundgang, der dann auf dem obersten Deck des Parkhauses begann, denn von dort aus kann man ganz Oberbilk überblicken.
Düsseldorf hatte und hat ja immer nur so ein bisschen Rotlicht-Millieu. Nun, da die Bordelle des von EXPRESS-Journalisten umschwärmten, im TV als Promi präsentierten Berti Wollersheim abgerissen sind, findet sich das, was den Bürger schreckt, vor allem in Oberbilk. Dazu zählen die Nachtbars auf der Mintropstraße, aber vor allem der Puff hinterm Bahndamm. Die Spielstraße hinter der Sichtschutzmauer heißt offiziell wirklich „Hinter dem Bahndamm“. Der Herr Luigs war dienstlich da, um Fotos für das Oberbilk-Buch zu machen, und war schockiert. „Das Schlimmste sind die Klosprüche da, die von den Freiern nach dem F*** hinterlassen werden – vorwiegend Gewaltfantasien.“ Ansonsten läge noch ein ganz besonderer Geruch in den zur Zeit leerstehenden Räumen.
Gleich um die Ecke auf der Vulkanstraße findet sich das Sportcafé vom Boxpapst Wilfried Weiser. Der ist kurz nach dem Krieg auf der Vulkanstraße geboren, der hat dort seine Kindheit verbracht als hier noch die Nutten rumstanden. Der Vater, der einen Sexshop und ein Pornokino betrieb, eröffnete 1980 eine Kneipe auf der Vulkanstraße, aus der „Beim Box-Papst“ wurde, nachdem der Wilfried sie übernommen und dem Boxsport gewidmet hatte. Frau Wehrmann ist mit dem Boxpapst per Du und zeigt rüber auf die andere Straßenseite: „Da wohnt der Wilfried. Die Kneipe hat er 2017 nach seinem Schlaganfall zugemacht.“ Die goldene Zeit des Profi Box Gym Weiser hat sie leider verpasst – da verlegten Boxgrößen wie Henry Maske, Sven
Ottke, Daisy Lang, Graciano Rocchigiani und Regina Halmich ihre Trainingslager an die Vulkanstraße.
Ethnisch gemischt war die Gegend jenseits der Unterführung bis weit in die Sechzigerjahre nicht. Dann aber zog es die Menschen zum Wohnen her, die man als „Gastarbeiter“ für die insgesamt sieben Fabriken der Schwerindustrie nach Düsseldorf geholt hatte. Erstens, weil die Mieten hier niedrig waren, und zweitens, weil man es nicht weit zur Arbeit hatte. Im Viertel zwischen Ellerstraße und Bahndamm waren es vor allem die Polen und die Jugoslawen. Aber im Gegensatz zu den Menschen aus Marokko eröffneten sie keine Lebensmittelläden, keine Teestuben oder Möbelgeschäfte – sie hatten ja Arbeit.
„Es heißt ja immer, Oberbilk sei multikulti. Da stellt man sich vielleicht einen vielfarbigen Teppich vor. In Wirklichkeit ist der Stadtteil eher ein Mosaik mit verschiedenfarbigen Kacheln, die sich nicht überlappen“, sagt Frau Wehrmann. So bildet der Oberbilker Markt eine scharfe Grenze zwischen der nordafrikanisch geprägten Eller- und der hauptsächlich von türkisch- und arabischgeprägten Menschen frequentierten Kölner Straße. „Und in Richtung Oberbilker Allee und Volksgarten wird der migrantische Bevölkerungsanteil immer geringer.“
Stimmt ja: Das Gelände der Buga von 1987 gehört nominell auch zu Oberbilk, genau wie die Hälfte des Gurkenlandes. Aber so weit reichte unser Rundgang dann doch nicht, wir beschränkten uns auf den Kiez südlich des Hauptbahnhofs. An der Dreieckstraße hat Badr Haddad vor acht Jahren sein marokkanisches Restaurant „La Grilladine“ eröffnet, den wir besuchen. Es ist das Zuckerfest, und drinnen bereitet die Familie das große Fressen zum Ende der Fastenzeit vor. Draußen hat Badr für unser süßen Minztee bereitgestellt sowie eine Auswahl noch süßeren Gebäcks. Frau Wehrmann ist hier Stammgast und wird herzlich begrüßt. Außerdem: „Es ist mir eine Ehre, in diesem Buch zu sein, es macht mich zum einem Oberbilker“, sagt Badr.
Als die Gegend nach den Vorfällen in der Silvesternacht 2015 in Köln von den Medien als „Mahgreb-Viertel“ verunglimpft wurde, war er einer, der öffentlich das Gesicht hingehalten und unermüdlich klargemacht hat, dass dieser Teil von Oberbilk kein gefährlicher Kiez voller Krimineller ist. Wobei: „Vorgestern gab es Ärger“, erzählt er und zeigt uns ein Handyvideo; es sind Schüsse zu hören. Nein, so etwas sei nicht an der Tagesordnung; wahrscheinlich muss die Polizei auch nicht öfter zur Ellerstraße kommen als in andere Gegenden der Stadt.
Und trotzdem: Spätestens seit 2016 hat Oberbilk wieder einen schlechten Ruf. Eltern mit Kindern wird das Pflaster irgendwann zu heiß, sie ziehen weg. Nicht so die Eltern von Mika, die auf der Industriestraße leben. „Meine Freunde wohnen alle woanders“, hat Mika der Frau Wehrmann für das Buch erzählt. Man mag es kaum glauben an diesem sonnigen Vatertag des Jahres 2021, an dem die Straßen zwischen Bahndamm und Lessingplatz still da liegen als könnten sie kein Wässerchen trüben. „Das größte Problem hier ist in Wahrheit die Parkplatznot“, scherzt Mikas Mutter, mit der wir uns in einem Hinterhof treffen, wie es nicht mehr viele in der Stadt gibt.
Hier können Mika und ihr Zwillingbruder noch ordentlich toben, an der Teppichklopfstange Turnübungen absolvieren oder auf den Mülltonnen herumklettern. Bei Düsseldorfer*innen, die in den Fünfziger- oder Sechzigerjahren in der Stadt aufgewachsen sind, löst das sentimentale Erinnerungen aus – denn so war das damals überall in den zentrumsnahen Viertel von Derendorf über Flingern bis nach Bilk und Unterbilk. Überhaupt: Oberbilk erzählt viel darüber, wie grundlegend sich diese kleine Großstadt in den vergangenen fünfzig Jahren verändert hat – nicht nur bei den Mietpreisen.
Im Gegensatz zu Herrn Luigs ist Frau Wehrmann ein Teil des Viertels. In ihrem wunderbaren Blog theycallitkleinparis hat sie in den vergangenen sechs Jahren schon jede Menge Oberbilker Geschichten erzählt und außerdem regelmäßig Themenführungen durch den Stadtteil organisiert. Mit Unterbrechungen lebt sie seit gut zwanzig Jahren hier. „Meine erste Wohnung hatte ich an der Lessingstraße, Altbau, undichte Fenster, kaum beheizbar, aber billig. Und vor allem: Eine nette Hausgemeinschaft.“ Mittlerweile lebt sie am Lessingplatz. „Oberbilk war ein Kulturschock. Ich bin in Ludenberg großgeworden. Der war von der großen Stadt ziemlich abgeschottet, und Düsseldorf kannte ich eigentlich gar nicht, schon gar nicht dieses verrufene Viertel.“ Dass es andere Formen von Nachbarschaft geben kann als da, wo sie herkam, lernte sie bald. „Leute die schon länger in Oberbilk wohnen, kennen sich untereinander. Da hat man dann schon so manche Lebensgeschichte gehört.“
Man könnte den ganzen Tag durch Oberbilk laufen. Besonders wenn man auch den Südpark, also den ewigen Volksgarten und die zur Buga 1987 hinzugekommenen Grünflächen einbezieht. Jenseits der Kruppstraße waren wir gar nicht, und nicht einmal der Oberbilker Markt bildete eine der fünf Stationen. Das Loch am Nordostende des Stadtteils, der Standort der abgeräumten Paketpost, der nun schon seit Jahren als Spekulationsobjekt skrupelloser Grundstückshaie auf seine Entwicklung wartet und vermutlich als Gated Community für hochdotierte Expats enden wird, kam in unserer Runde auch nicht vor. Ebenfalls nicht der IHZ-Park an der Moskauer Straße oder das Gerichtszentrum auf dem Gelände der ehemaligen Kesselwerke. Wir waren nicht an der legendären Philipshalle, und durchs Gurkenland südlich der Karl-Geusen-Straße sind wir auch nicht gestreift. Wir haben ein bisschen an der Oberfläche gekratzt und nur ein Partikelchen Oberbilk für uns entdeckt.Was bleibt? Die dringende Empfehlung an alle Alt- und Neu-Düsseldorfer*innen sich das Oberbilk-Buch von Frau Wehrmann und Herrn Luigs anzuschaffen – es erzählt Geschichten, die mehr Düsseldorf enthalten als die gängigen Reiseführer. Außerdem die Aufforderung, Oberbilk auf eigene Faust zu entdecken: Minztee an der Ellerstraße zu trinken, unter den Bäumen auf dem Lessingplatz zu sitzen, auf dem Oberbilker Markt Falafel zu essen, auf der Kölner Straße türkische Spezialitäten einzukaufen, im Café am Kinderbauernhof im Südpark ein Stück Kuchen zu genießen, sich anzuschauen, wie das Wim-Wenders-Gymnasium an der Schmiedestraße wächst und natürlich alle Stationen aus dem Oberbilk-Buch persönlich anzusteuern.