Was ist das für eine komische Straße, die erst mit der Hausnummer 36 beginnt? Und sich wie ein Wurm durch Flingern-Nord schlängelt? Genau, es ist die Straße, die so heißt wie Hunderte Straßen in deutschen Städten, quasi die Frau Müller unter den Straßen und deswegen Vorbild für eine ewige Fernsehserie. Die Lindenstraße beginnt also an der Birkenstraße. Die Kartenansicht bietet Raum für Spekulationen darüber, wo die Nummer 1 bis 43 und 2 bis 34 geblieben sind. Es wird mit der großen Düsseldorfer Bahnschneise zu tun haben, die sich von Kalkum bis zum Hauptbahnhof einmal quer von Nord nach Süd durch die Stadt zieht. Verlängert man das Zipfelchen der Lindenstraße nämlich nach Westen über die Gleise hinaus, käme man gut 200 Meter weiter an der Gerresheimer Straße aus – diese Strecke entspricht ziemlich genau den rund 30 fehlenden Häusern.

Setzen wir die Spurensuche fort, kommen wir auf eine andere Erklärung. Auf einem Stadtplan von 1903 ist zu sehen, dass das Stück zwischen der Grafenberger Allee und dem heutigen Beginn damals als Lindenstraße und nicht als Birkenstraße angezeigt wird. Dieses Mal sind es rund 160 Meter. Weil die Grafenberger Allee erst nach dem Krieg auf das Doppelte verbreitert wurde, lag die Südseite früher also weiter weg. Könnte hinkommen. Und würde dem Wesen der Lindenstraße als Lindwurm mit vielen Ecken und Kurven entsprechen. Moment – da gibt es auch noch einen Stadplan von 1893 aus Meyers Konversationslexikon. Schon damals ist die Lindenstraße an derselben Stelle abgeschnitten wie heute und trifft auf die Birkenstraße. Karten aus der Zeit vor dem Entstehen der Bahntrasse, auf denen diese Ecke zu sehen ist, fehlen leider. So wird der Anfang der Lindenstraße vermutlich ein Rätsel bleiben…

Von öde bis schick

Heutzutage trägt die Lindenstraße viele verschiedene Gesichter, die sehr viel über die Veränderungen von Flingern-Nord in den vergangenen dreißig Jahren aussagen. Bis weit in die Siebzigerjahre hinein war sie eher unscheinbar mit wenigen Geschäften und noch weniger Gastronomien versehen. Gerade der erste Abschnitt bis zur Ackerstraße war langweilig bis hässlich. Highlight war und ist dort Brombach, einer der letzten spezialisierten Teppichbodenhändler mit seinen legendären Resten für kleines Geld. Aus dem eher unscheinbaren Italiener an der Ecke zur Mendelssohnstraße wurde der „Principale„, der sich von außen sehr schick gibt. Gleich gegenüber liegt mit „Lucy Abyssinia“ das einzige äthiopische Restaurant der Stadt – dies ein Relikt aus der kurzen Multikulti-Historie dieser Ecke, als der Geist der Ackerstraße hierher wehte.

Eine bewegte Geschichte hat das Haus an der Ecke zur Ackerstraße hinter sich; dass dort nun schon seit Jahren das „Café Hüftgold“ die Flingeraner anzieht, darf als Happyend gewertet werden. Wobei: Es sind die neuen Flingeraner, die sich treffen, Kaffee trinken, Kuchen essen und quatschen. Denn hier beginnt der hippe Teil der Lindenstraße mit dem Hermannplatz als Epizentrum. Der Häuserblock zur linken gehört der alten Volksschule, die nun auch schon seit vielen Jahrzehnten als Montessori-Schule mit extrem gutem Ruf wirkt. Ein paar Häuser weiter lag auf der linken Seite ein mächtiger Hochbunker eingeklemmt zwischen alten, leicht angeranzten Häusern. Der hatte ab Mitte der Sechzigerjahre eine entscheidende Bedeutung für junge Leute, die ihre erste eigene Wohnung bezogen hatten. IKEA gab es noch nicht, dafür aber einen riesigen Gebrauchtmöbelmarkt hinter meterdicken Betonwänden. In heißen Sommern kehrte man hier auch gern ein, ohne nach Mobiliar zu suchen – einfach weil es so herrlich kühl war.

Die Zeichen der Gentrifizierung

Nun steht anstelle des Bunkers dort ein extrem historisierendes Luxuswohnhaus. Es soll den Anschein erwecken, zur dortigen Bausubstanz zu gehören, ist aber einfach nur sehr groß und sehr weiß. Die Eigentümer genießen den freien Blick auf den Hermannplatz und haben eine ganz neue Art Gastronomie angelockt. Zwar gab es am Hermannplatz schon in den Neunzigerjahre Institutionen wie den Bösen Chinesen, jetzt aber ist jede Ecke mit einem hippen & coolen Essplatz besetzt. Dazu die üblichen Boutiquen in Häusern, die bis vor Kurzem noch altmodische Frisöre, Änderungsschneidereien und Pommesbuden beherbergten. An einem sonnigen Nachmittag steht dann schon mal ein gutes Dutzend Kinderwagen vor dem Café, das sich „Oma Erika“ nennt. Dieses Ding tut so als habe es eine bis 1925 zurückreichende Tradition und sei aus einem „Colonialwarenladen“ entstanden.

Auch im kurzen Stück bis zur Dorotheenstraße hat die neue Zeit Einzug gehalten. Früher waren die zwei wichtigsten Gebäude die einzige Postfiliale weit und breit sowie gegenüber das Bischof-Ketteler-Haus, ein katholisches Familienzentrum samt Kita, das den Einwohner auch als Begegnungsstätte zur Verfügung steht. Gleich daneben residierte „Hydraulik Helfrich“, ein Laden, von dem niemand ganz genau wusste, was es dort zu kaufen gibt. Heute sitzt darin etwas Angesagtes, das die alte Neonreklame des Vormieters am Haus gelassen hat. Mit der Galerie Conrads ist vor Jahren eine kleine, einflussreiche Kunstgalerie hierher gezogen. Gut dass es nebenan die „Regenbogen-Buchhandlung“ gibt, die innen wie außen wie aus der Zeit gefallen wirkt und den Geist der frühen Achtzigerjahre versprüht.

Die dunklen Seiten

Diese Überschrift ist weniger atmosphärisch, als vielmehr bezogen auf das Licht gedacht. Jenseits der Dorotheenstraße beschattet auf der rechten Seite der große Wohnblock aus Backstein die Straße. Die ist hier außerdem relativ schmal und umstanden von Wohnhäusern mit mindestens fünf oder sechs Geschossen. Der Backsteinkoloss zwischen Deger-, Dorotheen- und Lindenstraße trägt den Namen „Eulerhof“ und soll an den Landsitz von Joseph Euler erinnern, einem Notar und Politiker, der den Künsten zugeneigt war und Mitte des neunzehnten Jahrhunderts einen Sommersalon unterhielt, den auch Clara und Robert Schumann frequentierten.

An zwei Ecken zur Degerstraße gibt es weitere historische Orte. Wo heute ein eher schlichter Asia-Imbiss lockt, war schon immer ein Schnellimbiss – jedenfalls ab Mitte der Sechzigerjahre. Schräg gegenüber wird es noch historischer. Wo heute eine Kita eingerichtet ist, befand sich über Jahrhunderte eine Gastwirtschaft, die zunächst Teil eines Gutshofes war, dann ein freistehendes Gasthaus und zuletzt eine gemütliche Eckkneipe namens Euler Hof (ebenfalls in Erinnerung an das Sommerhaus der Eulers). Hier wird auch deutlich, dass die Lindenstraße zumindest teilweise dem Verlauf einer uralten Einfallstraße Richtung Düsseldorf (=Altstadt) folgt. Diese kam aus dem Bergischen Land und führte über Gerresheim und die Haardt hinab nach Flingern. Vermutlich ist also die Lindenstraße eigentlich die Verlängerung der heutigen Grafenberger Allee (die erst gegen 1870 angelegt wurde) Richtung Altstadt. Sie wird in den Zeiten der Kutschen schon eine wichtige Zufahrt gewesen sein, denn das Gasthaus war wohl auch Poststation.

Das ganz andere Lindenplätzchen

Hier hat der Verfasser dieser Ortsangabe Anfang der Neunziger Jahre eine Zeitlang gewohnt. Damals war das Lindenplätzchen noch nicht so schick und hip wie heute. Eher im Gegenteil. Hauptattraktion war eines der berühmtesten Büdchen Düsseldorfs, ein Treffpunkt für alle Leute im Viertel und Tankstelle für die Alkoholabhängigen, die ihre Tage hier verbrachten. An der Schräge zur Hoffeldstraße gab es eine wenig einladende Wirtschaft. Sonst nichts. Gegenüber neben dem „Heiligen Haus“ lag ein Mekka der Modellbauhobbyisten und auf der andere Seite eine weitere ungemütliche Kneipe, die zum Glück von der „Taverna Flattermann“ (die sich später in „Taverna to Steki“ umbenannte) übernommen worden war. Die fröhlichen Griechen hatten zuvor vor allem halbe Hähnchen an der Flurstraße verkauft – daher der Spitzname.

Eine Menge änderte sich nachdem sich das Nooi (heute „Nooij„) ansiedelte und das gesamte kreative Volk aus dem weiteren Umkreis anzog. In diesem Café-Restaurant gab es schon Tee aus frischer Nanaminze, als woanders noch Cola light geordert wurde. Die Küche war völlig exotisch und die Bedienung extrem nett. Mit viel Liebe und toller Qualität etablierte sich diese Gastronomie, die zunächst wie ein Fremdkörper wirkte, am Lindenplätzchen. Kann gut sein, dass das Nooij mit zur verstärkten Ansiedlung von Werbe-, PR- und Modeagenturen an der Hoffeldstraße beitrug und dazu, dass aus der Flurklinik ein Kreativdomizil wurde.

Leider hat die Entwicklung der letzten Jahre diesen wunderbar authentischen Griechen-Imbiss verdrängt. Heute heißt es Sattgrün und ist ganz im Stil der Zeit vegetarisch mit Selbstbedienung. Die Verwaltung des Sattgrün-Imperiums haust im ehemaligen Modellbauladen. Wie sehr gerade diese Ecke gerade gentrifiziert wird, zeigt die Tatsache, dass der ehemals bodenständige Getränkehandel nun natürlich auch Craft Beer anbietet. Um die Trinker zu vertreiben, die schon mal schwer besoffene Frauen halbnackt übern Platz hetzten, hat man das Büdchen abgerissen und einen merkwürdigen Brunnen samt Begleitgrün aufs Plätzchen gepflanzt, der nun zur Hälfte als Terrasse fürs Nooij fungiert – die Außenseiter der Gesellschaft haben nun noch zwei Bänken für ihr Open-Air-Leben.

Der stille Rest

So still die Lindenstraße oben an der Birkenstraße beginnt, so endet sie auch jenseits der Bruchstraße. Zum Glück hat sich dort noch ein richtig echtes Schmuddelbüdchen gehalten. Aber schon drohen Boutiquen mit Übernahme. Zwischen Cranachstraße und Grafenberg Allee erheben sich die höchsten Bäume der Straße und die dunkelsten Altbauten. Und dann ist gegenüber vom Hanielpark Schluss. Dort hält der Bus 834, unter Eingeborenen auch Linden-Express genannt. Der fährt auf der Lindenstraße von der Grafenberger Allee (Haltstelle Engerstraße) bis zur Kreuzung mit der Ackerstraße (Haltestelle Birkenstraße).

Wer aber von irgendwo auf der Lindenstraße aus schnell in der Stadt sein will, orientiert sich auf die Grafenberger Allee hin, wo ja bisher die Straßenbahn 712 fuhr. Die heißt nun U72 und verschwindet am S-Bahnhof Wehrhahn im Tunnel der gleichnamigen Linie.